Im Gespräch
Zeit und Erzählen
8. 4. 2017 / Von Klaus Zeyringer
Ein literarischer und ein wissenschaftlicher Zugang: Rudolf Taschner und John Wray bei "Transflair" als Matinée des internationalen Kulturenfestivals "Literatur und Wein"

Betritt man zur Samstags-Matinée bei "Literatur und Wein" das Podium, spürt man die so angenehm gespannte wie entspannte Festival-Stimmung. Die Meisten im Publikum, das den leicht sonnenhellen Saal füllt, haben am Vorabend oben im Stift Göttweig Lesungen, Musik und Winzerkunst genossen - nun sind sie zur Halbzeit herunten, unweit der Donau, um Sprachkunst und Gespräch weiter einwirken zu lassen. Oben bringen ihnen die Vortragenden Ausschnitte ihres Werkes zu Gehör; unten geben sie im Dialog Einblicke in ihr Denken und Schaffen.

"Vom Zauber der Welt, der Zeit und anderen Wunderlichkeiten" lautet der Titel dieser 59. Folge von "Transflair", das zudem den Zauber des Erzählens und der Wissenschaft vor Augen und Ohren führt. Wie lässt sich die Komplexität der Welt, der Zahlen und der Zeiten erzählen, welche Wege zwischen dem Realismus und dem Aberglauben gibt es? Dazu sind zwei scheinbar völlig unterschiedliche Persönlichkeiten und Autoren eingeladen. Doch der Eine schreibt in dem Buch Der Zahlen gigantische Schatten. Mathematik im Zeichen der Zeit: "Irgendwo hat jemand die Riemann'sche Vermutung bereits widerlegt, doch niemand hat davon gehört, weil dieser unglückliche Mathematiker sofort vom Schlag getroffen wurde und starb." Der Andere erzählt im Roman Das Geheimnis der verlorenen Zeit von einem Urgroßvater, der 1903 in Znaim das Geheimnis der Zeitreise gefunden hat und gleich darauf von einem Automobil zu Tode gefahren wurde. Wissenschaftliche Erkenntnis scheint gefährlich zu sein.

Der Eine ist Rudolf Taschner, für das zitierte Werk hat er den Donauland-Sachbuchpreis bekommen. Auf der Klappe steht der Satz: "Die Einsichten über die Welt, die hier dargeboten werden, sind so, dass sie die Science Fiction locker überbieten."

Marcel Prawy der Mathematik

Rudolf Taschner ist Professor an der TU Wien, im Museumsquartier hat er den MathSpace begründet. Als er 2004 zum Wissenschaftler des Jahres gewählt wurde, schrieb Die Presse, er sei "der Marcel Prawy der Mathematik". 2007 erhielt er die Auszeichnung "Kommunikator des Jahres" - auf dem "Transflair"-Podium bewahrheitete sich diese Qualifikation auch zehn Jahre später aufs Ergötzlichste. Taschner selbst nennt den Astronomen und Geophysiker Heinz Haber als sein großes Vorbild, "der bei Walt Disney, dem Genie des Erzählens, sein Handwerk lernte". Mathematik sei die zweitbilligste Wissenschaft, erklärte Taschner, man brauche dazu nur Bleistift, Papier und Papierkorb - die billigste sei die Philosophie, da sei nicht einmal ein Papierkorb vonnöten.

Die Titel zeigen schon, wie lustvoll hier von Angelegenheiten erzählt wird, die unsereinem im Gymnasium als weniger lustvoll gewesen sein mochten: Rechnen mit Gott und der Welt oder Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der Spieltheorie oder Die Zahl, die aus der Kälte kam. Taschners neuestes Werk ist Woran glauben. Zehn Angebote für aufgeklärte Menschen, zum Beispiel "Glauben an 313", "Der Glaube an die Geschichte", "Der Glaube an das Ich", "Der Glaube an Gott" und als letztes Kapitel "Der unbeweisbare Glaube".

All dies spricht die beiden Oberthemen dieser "Transflair"-Matinée an: die Zeit und die Frage, woran man glauben könne.

John Wray kommt zugleich unweit und recht weit von Krems/Stein her. Er ist in Washington D.C. geboren, der Vater Amerikaner, die Mutter aus Kärnten, wo John nicht nur die Sommer seiner Kindheit verbracht hat. Vor zehn Jahren wurde er zu den besten jungen US-Autoren gewählt. Sein erster Roman Die rechte Hand des Schlafes erzählt von einem Oskar Voxlauer aus einer fiktiven Stadt in Kärnten, der im Ersten Weltkrieg am Isonzo kämpft, desertiert, bis in die Ukraine flüchtet und im März 1938 nach Österreich zurückkehrt. Retter der Welt heißt der dritte Roman von John Wray (der zweite ist nicht auf Deutsch erschienen, die anderen hat Rowohlt publiziert), im Original Lowboy. Das ist ein Sechzehnjähriger, schwer schizophren, der interniert wird, in die New Yorker U-Bahn flüchtet und sich dort umtreibt, während er gesucht wird. Die Prosa besticht mit ihrer großartigen Bildhaftigkeit und dem starken Rhythmus - John Wray hat viele Teile des Werks tatsächlich in der U-Bahn geschrieben.

Das Geheimnis der verlorenen Zeit, 2016 auf Deutsch, mischt die Genres Historischer Roman und Science Fiction. Waldemar Tolliver sitzt in einem vermüllten Appartement in New York, und die Zeit steht buchstäblich still. In der Blase der angehaltenen Zeit erzählt er die Familiengeschichte, er geht bis 1903 nach Znaim zum Urgroßvater zurück. Dieser Ottokar Toula ist Essiggurkenfabrikant und Hobbyphysiker, mit ihm beginnt das Thema der Zeitreise zum Traum und zum Trauma der Familie zu werden. Der Großonkel wird KZ-Leiter, der Großvater muss ins Exil in die USA, der Vater des erzählenden Waldemar schreibt Science-Fiction-Roman.

"Er-zählen" hat natürlich mit zählen zu tun, sagt Rudolf Taschner auf dem Matinée-Podium. Die meisten Mathematiker hätten auf das Erzählen vergessen, "das ist sehr gut für mich, dadurch hab ich ein kleines Monopol. In der Schule sollte man Mathematik erzählen". Narration sei wunderbar, da gibt es einen Anfang und ein Ende, aus einer Erzählung könne man aussteigen, aus der Geschichte als Historie ja nicht. Die Geschichten, die er selbst zum Besten gibt, seien natürlich erfunden "und daher umso wahrer". Man bedenke die Arbeit des Mathematikers: Ihm liegt ein mathematisches Problem und ein weißes Blatt Papier vor - "und es ist nichts da", während sich der Physiker wenigstens auf seine Messgeräte stütze.

"the most elegant solution"

John Wray sagt darauf, er finde es so toll, dass - zumindest auf Englisch - die besten Lösungen "elegant" genannt würden: "the most elegant solution". Dieses Wort, meint er, "würde man nicht erwarten". Das erinnert Taschner an einen berühmten ungarischen Mathematiker, der geglaubt habe, Gott verwahre alle schönen Beweise der Mathematik in einem Buch - aber er sei ein Bösewicht und zeige sie uns nicht, man müsse sie ihm entreißen.

Die Situation mit dem leeren Blatt Papier sei auch jene des Schriftstellers, sagt John Wray und fügt leicht seufzend hinzu: "leider ja". Und es brauche, besonders für Das Geheimnis der verlorenen Zeit, viel Recherche, "mit Müh und Not". Immerhin sei ein Roman kein Sachbuch, "die Figuren können sich für die Physik begeistern, können aber voll daneben sein. Sie können Theorien entwickeln, die wirklich nicht stimmen, aber dennoch fest daran glauben." Dem Autor biete das einen "Fluchtweg"; gescheiterte Menschen seien im Roman ohnehin meist interessanter. Die einzige Figur im Geheimnis der verlorene Zeit, die scheinbar nicht scheitere, sei ja des Erzählers Vater, der Science Fiction schreibt, wirft der Moderator ein. "Der scheitert schon auf seine Weise", korrigiert Wray mild und lächelnd. Vor allem seine pornographischen Bücher sind erfolgreich, eines wird sogar zum Gründungstext einer Sekte. "Weiter scheitern, besser scheitern", verweist Taschner auf Beckett.

Gödel lacht

Mit Zeitreisen im Roman habe er riesige Schwierigkeiten, sagt der Mathematiker und kommt auf Kurt Gödel zu sprechen. Der habe ja an Zeitreisen auch geglaubt, und als er gefragt worden sei, wie das logisch gehen solle, habe er verschwörerisch gelacht.

Der Roman muss sich freilich um Logik nicht unbedingt kümmern. "Wenns ging", habe er das schon gemacht, sagt Wray. "Eine der Hauptfragen in diesem Buch ist ja, ob die Behauptung des Waldemar Tolliver, er sei aus der Zeit ausgeschlossen, stimmt oder ob er nicht bei Sinnen ist". Bei der Konzeption des Romans, lächelt John Wray, habe er sich "ziemlich viele kleine Fluchtwege eingebaut". Deshalb habe er einen Familienroman mit so vielen Figuren konzipiert, um möglichst viele Aspekte des Versuches, die Zeit zu verstehen und zu erklären, angehen zu können. Und fast jedes Mitglied dieser seltsamen Familie entwickle eine eigene Theorie; allesamt widersprechen sie sich gegenseitig. So sei das Hauptthema des Romans eigentlich die Subjektivität; dazu brauchte es ein Familientrauma, das über die Generationen anhält.

Im Übrigen bestehe ja die Geschichte der Wissenschaft vor allem aus Fehlern, sagt Wray. "Offensichtlich ist die Zeit viel mehr, als die Physik über sie zu berichten weiß", steht in einem Buch von Rudolf Taschner. Die Zeit, sagt er auf dem "Transflair"-Podium, "ist die abhängigste aller Variablen, für die Physik ist sie ein leerer Parameter, ein Punkt auf einer Geraden". Sodann besprechen der Mathematiker und der Romancier, warum die Zeit nur in eine Richtung voranschreite.

Im Bezug auf Wrays Roman, in dem der Urgroßvater gleich nach seiner vorgeblichen Entdeckung stirbt und über Generationen seine Nachkommen rätseln, was er gefunden habe, sagt Taschner "Die Mathematik ist gefährlich", verweist auf einige Mathematiker, die daran zugrundegingen und erzählt die Geschichte von Kurt Gödel, "höchst eigenartig", in Princeton dann der Spaziergangs-Partner von Einstein. Den wiederum nennen die Familienmitglieder in Wrays Roman nur verachtend den "Patentprüfer", da der Vergleich mit dem wissenschaftlichen Star für die Tollivers immer schmerzhaft ist.

Ein kulturelles Produkt der Vereinigten Staaten

Die zweite große Frage, die beide, Taschner und Wray, in ihren jüngsten Büchern beschäftigt, ist jene nach dem Glauben, für den amerikanischen Romancier recht satirisch. Für die Sekte im Geheimnis der verlorenen Zeit sei Scientology Pate gestanden, "etwas so uramerikanisches, ein schönes kulturelles Produkt der Vereinigten Staaten", sagt er ironisch. Für einen Schriftsteller sei es besonders toll, dass die Sekte mit einem Urtext anfange, in seinem Buch ist es ein pornographischer Science-Fiction-Roman. Daraufhin erklärt Rudolf Taschner eines seiner Vorbilder für das Kapitel "Glauben an 313", also über den Aberglauben, komme auch aus den USA: Donald Duck und Walt Disney. Der große Physiker Nils Bohr, ebenfalls Gegner von Einstein, habe ein Hufeisen über seinem Haustor aufgehängt gehabt. "Sie als Physiker, sie werden doch nicht glauben, dass das Glück bringt", habe ein Kollege gefragt und die Antwort erhalten:
Selbstverständlich glaube ich nicht daran. Aber ich habe mir sagen lassen, es bringt auch denen Glück, die nicht daran glauben.
Aberglaube sei natürlich eine Marotte, sagt Taschner. Anders der Glaube an die Kunst - wenn Einstein Geige gespielt habe, "da hat er schon gemerkt, es gibt auch was anderes als diese blöden Galaxien".

Und am Ende sind sich beide, Rudolf Taschner und John Wray, (fast) einig: Das Unendliche ist das Thema schlechthin, folglich die Zeit und die menschliche Subjektivität.