Im Gespräch
Gefängnis und Gesellschaft - von Entmenschlichung erzählen?
7.11.2019 / Von Klaus Zeyringer
Astrid Wagner und Cengiz Günay, dazu Texte von Aslı Erdoğan bei Transflair

Bei der Konzeption der Serie Transflair ging der Blick zur Donau, auf dem Strom fahren viele Schiffe vorbei: Transfer und Flair von Kulturen. Der Blick auf die andere Seite des Literaturhauses blieb bislang aus: dort liegt das Gefängnis Stein. Auf diese andere Seite zu schauen, war hoch an der Zeit - was ist das für eine Welt, oder "die Hölle", wie die türkische Autorin Aslı Erdoğan schreibt?

Einen ersten Eindruck bekamen wir, als der Tierschützer Martin Balluch vor dreieinhalb Jahren auf dem Transflair-Podium von seinen schlimmen Erfahrungen in monatelanger Untersuchungshaft berichtete (trotz Freispruchs war er danach ökonomisch ruiniert). "Dieses ganze Gefängniserlebnis hat mich entkörperlicht." Einmal die Woche mit wildfremden nackten Männern um eine Dusche zu raufen, das schien ihm ein gezieltes Kalkül zu sein, "um Gefangene zu entmenschlichen". "Entmenschlicht", heißt es auch bei Aslı Erdoğan. Gefangenschaft ist laut Balluch, "ohne jeden Respekt behandelt zu werden und den Respekt vor sich selbst zu verlieren". Sein Fazit: "Gefangenschaft ist Folter."

Nun ging die 69. Folge von Transflair dem Strafvollzug in zwei verschiedenen Kontexten nach: in einer demokratisch organisierten Gesellschaft, in der prinzipiell die Unschuldsvermutung gilt, und in einem autokratisch geführten Staat - zur Situation in Österreich mit Astrid Wagner, zur Türkei mit den Texten der wegen Krankheit abwesenden, mit ihrem Wort anwesenden Aslı Erdoğan und mit Cengiz Günay.

Astrid Wagner ist Rechtsanwältin in Wien, hat Jus und Dolmetsch in Graz studiert, am Landesgericht ihr Rechtspraktikum absolviert. Dort hat sie 1994 den umstrittenen und mediengehypten Prozess gegen Jack Unterweger sehr nah und persönlich emotional miterlebt. Unterweger, der lange in Stein einsaß, war 1976 wegen Mordes an einer jungen Frau zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden, jedoch auf Fürsprache zahlreicher prominenter Intellektueller wie Elfriede Jelinek freigekommen, da er sich im Gefängnis geläutert und zu schreiben begonnen hatte, etwa den autobiographischen Roman Fegefeuer. Im Literaturbetrieb hatte er daraufhin kurzzeitig reüssiert, bis er verhaftet und des elffachen Frauenmordes angeklagt wurde. Nach einem neuerlichen Lebenslänglich nahm er sich in der Zelle das Leben. Nun, 2019, sollte Astrid Wagner das Prozesstagebuch von Jack Unterweger veröffentlichen, wegen eines Rechtsstreites um das Urheberrecht konnte der Band bislang nicht wie vorgesehen erscheinen. Schon 2001 hatte Wagner den Prozess und seine Vorgeschichte beschrieben, seither hat sie Unfassbar (2013) mit einigen ihrer interessantesten Fälle, Verblendet (2014) über ihr persönliches Erlebnis mit dem Fall Unterweger und dieses Jahr Sie töteten, die sie liebten publiziert.

Welche Schlüsse Justiz, Strafverfolgung und Gefängnis sie aus dem Fall Unterweger ziehe? Es sei eine Art Wendepunkt des Zeitgeistes gewesen, denn Unterweger sei nach 15 Jahren Haft entlassen worden, als von Intellektuellen hofiertes Paradebeispiel, dass der Mensch sich zu bessern vermöge. Im Gefängnis Stein habe er den Hauptschulabschluss nachgeholt, eine eigene Literaturzeitschrift herausgegeben, wurde sogar zu einer Lesung in der Alten Schmiede in Wien "ausgeführt". All das sei heute undenkbar. Auch die Zustände in den Haftanstalten haben sich seit 1994 verändert, sagt Astrid Wagner. Einiges wie die Besuchsmöglichkeiten seien verbessert worden, allerdings seien die Bedingungen in der Wiener Josefstadt, wo sie oft mit Untersuchungshäftlingen zu tun habe, erschütternd "unmenschlich". An einem heißen Sommertag habe einmal in dem kleinen Käfig der "Vorführzelle" ihr Klient gerufen "Hilfe, wir ersticken!" - und der Beamte habe einfach wortlos heftig die Türe zugeworfen.

Übervolle Gefängnisse

Im Buch Sie töteten, die sie liebten jedoch sagt der "Seekiller" Walter M.: "In Stein war ich ein Mensch". Ja, erklärt Astrid Wagner, dieser Mann habe schon dreißig Jahre im Gefängnis verbracht und schwärme "vom Stein der achtziger Jahre". Er ist in der Druckerei tätig; heute leide auch er, weil die Haftanstalt so überbelegt sei und über zu wenige Beamte verfüge, sodass die Arbeit nicht möglich sei. "Die Gefängnisse platzen aus allen Nähten", sagt Wagner. Tatsächlich sperrt Österreich mehr Menschen ein (102 Häftlinge pro 100 000 Einwohner) als skandinavische Länder oder etwa Slowenien (64 pro 100 000 Einwohner) - eine Folge der gesellschaftspolitischen Stimmung. Ein deutscher Gefängnisleiter erklärte kürzlich, Gefängnis löse keine Probleme, sondern schaffe neue Probleme; man müsse über Alternativen nachdenken.

Nicht nur wegen der Opfer und ihrer Angehörigen, sondern auch für die Täter sei Sühne nötig, meint die Rechtsanwältin. Die Frage ist freilich, welche sozialpolitische Vorstellung mit Verurteilung und Haft wirksam wird. In Überwachen und Strafen analysiert Michel Foucault, wie die Disziplinierung von Menschen über Schule, Krankenhaus und Gefängnis erfolgte, um eine produktive Gesellschaft zu fördern. Die Straftat sei auf jeden Fall ein Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft. Zunächst musste der Täter die Verantwortung körperlich zu spüren bekommen, mit der Aufklärung verstand man die Strafe als Sühne, im 19. Jahrhundert mit der Industriellen Revolution auch als Besserungsmöglichkeit im "Zuchthaus".

Schuld / Willkür

In der Rechtslehre heißt es, sagt Astrid Wagner, dass Strafe "erzieherisch" und "generalpräventiv" wirke. Aus ihrer Berufserfahrung kenne sie auch geläuterte Kriminaltäter. Gefängnis sollte eine Bildungsanstalt sein, wie das Opferverbände fordern. Von schuldig gesprochenen Menschen redet Astrid Wagner. Im wesentlichen Unterschied dazu handelt es sich bei Martin Balluch oder Aslı Erdoğan um Beschneidungen der Meinungsfreiheit und um Willkür.

Über Gefängnis und Haft zu schreiben, sei "das Schreiben über das Furchtbarste", steht bei Aslı Erdoğan. Bei ihr geht es um politische Haft, sie hat ein türkisches Gefängnis erlitten. Als Physikerin war sie 1991 im CERN in Genf tätig, in dieser Zeit verfasste sie ihren ersten Roman. Da sie für eine türkisch-kurdische Zeitung arbeitete und hier über Gewalt gegen Frauen und Repression gegen Kurden berichtete, fühlte sie sich in der Türkei bedroht und zog nach Brasilien. 1994 kam sie zurück, publizierte den Roman Der wundersame Mandarin, feierte dann mit Die Stadt mit der roten Pelerine ihren großen literarischen Erfolg. Nach dem Putschversuch wurde sie im August 2016 in Istanbul verhaftet, der Staatsanwalt forderte lebenslänglich, als Beweismaterial dienten einzig ihre Zeitungsartikel. Über den Prozess schreibt sie: "Man sollte sich schämen, dass eine Schriftstellerin ihre Literatur in einem Gerichtssaal verteidigen muss." Aufgrund internationaler Proteste wurde sie nach mehr als vier Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen, im September 2017 durfte sie nach Deutschland ausreisen, wo sie heute lebt.

Buch über Gefängnis vor Gefängnis

Immer wieder fragte sich Aslı Erdoğan, wie sie dieses Geschehen zur Sprache bringen könne. Ihre Kolumnen und Essays sind in dem Band Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch zu lesen, und nun kam der Roman Das Haus aus Stein heraus, der zehn Jahre zuvor im Original erschienen und mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Türkei ausgezeichnet worden war. Dieses Buch über das Gefängnis hatte sie also verfasst, bevor sie selbst das Gefängnis erleiden musste. Bildreich, mitunter metaphorisch und lyrisch beschreibt es Menschen, die von den Qualen der Haft gebrochen sind, zudem reflektiert es, wie man solche Erfahrungen zu erzählen vermöge. Der deutschen Ausgabe hat Aslı Erdoğan ein Vorwort vorangestellt. Darin steht: "Schwer, noch einmal davon zu reden. Nach all den Zellen, den vielen Schlägen, den Verlusten des Lebens. Aus der bitteren, harten Erfahrung heraus zu sprechen, dass man zum Schweigen gebracht wurde. Das scharfe unsichtbare Messer, das die Worte aushöhlt, hat ihnen auch die Zungen abgeschnitten und die Augen ausgestochen." Das Haus aus Stein ziehe "Kreise um das Unerzählbare", es enthalte "den Trost des erzählerischen Zusammenhangs vor".

Diese Beschreibungen seien erschütternd, sagt Cengiz Günay. Dabei müsse man noch bedenken, dass sich die Haftbedingungen, auch aufgrund der EU-Beitrittsverhandlungen, seit den 1990er Jahren deutlich verbessert haben.

Wegen der Erkrankung von Aslı Erdoğan ist Cengiz Günay dankbarer Weise kurzfristig eingesprungen, um die gesellschaftspolitischen Hintergründe in der Türkei zu besprechen. Er ist stellvertretender Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik, lehrt an der Universität Wien, forscht insbesondere über Transformation von Staatlichkeit und autoritäre Regimeformen. Publiziert hat er From Islamists to Muslim Democrats? über Islamismus in Ägypten und in der Türkei, dann bei UTB eine Geschichte der Türkei, schließlich 2017 als Herausgeber das Buch Border Politics.

Die repressiven Maßnahmen des Regimes von Erdoğan (nicht mit Aslı verwandt) lassen die Gefängnisse heute überquellen, sagt Cengiz Günay, und das Personal sei maßlos überfordert. Auch in der Justiz habe es viele "Säuberungen" gegeben - die Gülen-Bewegung, eine "ein bisschen mit Opus Dei vergleichbare religiöse Gemeinschaft", sei in Bildungsinstitutionen und im Justizsystem besonders stark vertreten gewesen. Folglich hätten nun Staatsanwälte und Richter Angst, dass sie in den Verdacht der Gülen-Anhängerschaft geraten könnten, wenn sie keine harten Strafen fordern und verhängen würden. In diesem Kontext beruhen die Gerichtsurteile zum Teil auf Willkür, zum Teil auf Unfähigkeit.

Autoritäre Türkei

Die Türkei sei heute ein komplexes autoritäres System, in dem die Regierung in manchen Bereichen eine schwache Durchsetzungskraft besitzt und sich manches verselbstständigt. Die "Hexenjagd" sei ein politisches Mittel geworden, um Kontrahenten auszuschalten; der Putschversuch habe Tayyib Erdoğan und seinem Kreis eine zusätzliche Möglichkeit gegeben, sich unliebsamer, etwa pro-kurdischer Personen zu entledigen. Der Ausnahmezustand habe viele Rechte außer Kraft gesetzt, "und deswegen wird er auch ständig verlängert". In dieser Situation habe ein Referendum stattgefunden, das im stets autoritärer werdenden Präsidialsystem den Ausnahmezustand in Verfassungsrang gestellt habe.

Ein zusätzliches Problem sieht Cengiz Günay darin, dass im türkischen Kontext der Terrorbegriff äußerst vage definiert sei. So könne leicht ein Text als Unterstützung des Terrorismus ausgelegt werden.

Die in der Türkei erkennbar starke Tendenz erfasse auch Länder in der EU: eine Vermischung demokratischer Abläufe und autoritärem Staatsverständnis. Teil des Systems seien oftmalige Wahlkämpfe und vor allem eine ständige Mobilisierung der Anhängerschaft mittels Polarisierung durch Feindbilder, die mit bekannten Narrativen und Mythen übereinstimmen.
Die Regierung sei wohl demokratisch gewählt, "nur die Bedingungen, unter denen die Wahlen stattfinden, sind nicht demokratisch".
Stimmt der Eindruck, dass in türkischer Literatur, und auch im Film, Gefängnis öfter thematisiert wird als hierzulande? Ja, das habe leider eine lange Tradition, sagt Cengiz Günay, da mit und seit der Republikgründung oft autoritäre Regime und massive Unterdrückung geherrscht haben.

Was kann das Wort gegen die aggressiv populistischen Bilder des Regimes? Der Erfolg des neuen (oppositionellen) Bürgermeisters von Istanbul beruhe, so Günay, auf einer Taktik, die allgemein inspirierend im Umgang mit Nationalisten und Populisten sei: Er habe nur im Positiven gesprochen und sei auf kein einziges Argument der Regierungspartei eingestiegen - dadurch habe er Hoffnung erzeugt, nun hätten die Menschen weniger Angst und äußern sich öffentlich kritischer. Immerhin ein vorsichtig optimistisches Schlusswort.